Sensitive Short Stories | Episode 1
Schwanenglück
Es war Sommer in Berlin. Die Spätis quollen über, die Bürgersteige waren besetzt von Restauranttischen, in den S-Bahnen stand die Luft und wer an der Hitze in der Betonwüste nicht sterben wollte, flüchtete an einen der Seen am Stadtrand. Vor allem Touristen gaben sich die Mühe im Öffi durch die Stadt zu schaukeln, um die Hitze in überfüllten U-Bahnen und zwischen den Gebäuden draußen gleich doppelt zu spüren.
An diesem Samstag sollten es satte 37 Grad werden und wie die Wetterstationen vorhersagten, sollte es auch in den kommenden Wochen genauso heiß bleiben. Die Radiosender sprachen von einem „astronomischen Sommer, der uns bevorsteht“. Als kleine Auszeit-Perle galt eine Badestelle mit künstlichem Sandstrand, die an den Tegeler See im Westen Berlins angrenzte.
Schon vormittags kamen die ersten Badegäste an. Es waren Familien und Gruppen an Jugendlichen sowie einige Urlauber, die mit vollbeladenen Taschen und aufblasbaren SUPs an das kleine Strandstück rückten.
Es wurde sich ein strategisch guter Platz ausgesucht, die Picknickdecken und Handtücher ausgebreitet, Zelte und Sonnenschirme aufgebaut sowie die mitgebrachten Snacks, Getränke und Spiele auf dem Boden drapiert. Flaschen klirrten aneinander und Bierdeckel flogen durch die Luft. Kinder mussten eingecremt und umgezogen werden und zeterten, dass sie doch gleich ins Wasser wollten. Aus den mitgebrachten Musikboxen schallten milder Deep House und 2000er-Klassiker wie „Sunshine Reggae“.
Es war halb drei nachmittags. Die Badestelle war mittlerweile gut gefüllt. Am Strandufer plantschten Kinder auf ihren aufgeblasenen Schwimmreifen, Einhörnern und Flamingos. Etwas ältere Kinder spielten Ball im hüfthohen Wasser und warfen sich gelegentlich Beleidigungen zu. Pärchen fütterten sich gegenseitig Obst. Freundinnen tratschten über ihre Verflossenen und das letzte Konzert, das sie besucht hatten. Eltern gönnten sich eine Pause und lasen. Eine Gruppe Jugendlicher, die sich mit Klappstühlen, einem Grill und jeder Menge Bierdosen breitgemacht hatte, fing an, Würstchen zu grillen.
Plötzlich stürmte eine Dreiergruppe Mitte Zwanzigjähriger hastig aus dem Wasser. Hinter ihnen ein riesiger ausgewachsener aufgeplusterter Schwan. Mit seinen dunklen Knopfaugen und den geöffneten Flügeln sah er bedrohlich aus. Er bremste kurz vor dem Ufer ab, das Wasser schlug noch leichte Wellen, dann blieb er in Hab-acht-Stellung mit seinen Füßen im Wasser stehen. Die Jugendlichen verzogen sich schnell mit leisen Lachern.
„Das war knapp“, hörte man sie sagen.
Um den Schwan herum standen nun vereinzelt Badegäste, ein Vater mit seiner Tochter, ein Pärchen und drei, vier Kinder, die konzentriert am Sandburgbauen waren. Keine vier Schritte weiter waren zwei mittelalte Männer gerade damit beschäftigt, ihre SUPs aufzupumpen.
Zuerst beachtete niemand den Schwan, alle Badegäste gingen ihren Tätigkeiten nach, alle waren entspannt. Der Schwan wagte sich zögerlich weiter vor und tapste aus dem fußhohen Wasser auf den Strand. Er reckte den langen schlanken Hals, plusterte seine Federn auf und drehte immer wieder ruckartig den Kopf – denn jeder weiß ja, dass Schwäne nicht nach vorne gucken können, sondern nur an den Seiten sehen.
Die Menschen drumherum reagierten schnell. Der Vater nahm kurzerhand seine kleine Tochter auf den Arm und lief weg. Die Kinder, die eben noch am Sandburgbauen waren, wurden von den Rufen ihrer Eltern aufgeschreckt, wobei sie auf den Schwan aufmerksam wurden, der ihnen näherkam. Ein Pärchen hatte die Szene beobachtet.
„Schau mal, Georg, da passiert was“, sagte einer von ihnen und zückte sein Handy. Der Schwan aber schien völlig unberührt von den Reaktionen der Menschen. Er stand einfach da, mitten im Menschenmeer und sonnte sich in der Aufmerksamkeit, die ihm nun ungewollt zu teil wurde. Sekündlich änderte er seine Kopfhaltung. Es hatte den Anschein, als schaue er jeden Badegast einmal gezielt an.
Ein Raunen ging durch die Menge. Erst jetzt fiel der Blick der Anwesenden auf den zweiten Schwan, der mit einem grauen Schwanenküken unterwegs war.
„Oh, schau mal, ein hässlicher Baby-Schwan!“, hörte man ein Kind sagen.
Der Schwan am Strand tapste weiter in Richtung der Menschen vor. Alle Badegäste gingen merklich einen Schritt zurück. Man konnte sofort den Respekt spüren, den die Menschen vor dem großen Tier hatten, aber auch ihre Neugier, was das Tier als nächstes tun würde.
Mit jedem Schritt des Schwans wuchsen die Augenpaare, die sich auf ihn niederlegten. Die Männer, die eben noch ihre SUPs am Aufpumpen waren, unterbrachen ihre Tätigkeit und schauten zum Schwan. Eine ältere Frau legte ihr Buch zur Seite und blickte zum Ufer. Ein Mann, der bis eben an seinem Sandwich gekaut hatte, ließ seine Hand sinken. Das Sandwich fiel auseinander und bröselte auf das Handtuch. Die Freundinnen hörten auf zu reden.
Es wurde still am Strand. Jede Person schien zu merken, dass dies ein besonderer Moment war. Je weiter das Tier am Strand entlang ging, desto größer wurde der Kreis um es herum. Niemand wollte dem Schwan allzu nahekommen.
Für einen kurzen Moment schien es, als beherrsche er den Strand. Seine Flügel waren weit geöffnet und die dunklen Augen blickten starr in die Menschenmenge. Ein paar Badegäste standen von ihrer Decke auf, um einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen.
Die Schwanen-Szene vollzog sich nur ein paar Minuten lang, aber hielt etwas Magisches inne. Ein großer weißer Schwan, der aus dem Wasser voranschritt und die Menschen, die ihm Platz machten. Der Schwan als König unter den Menschen.