Reportage

Eine WG zweiter Wahl

Ian B. ist auf der Suche nach Selbstständigkeit, Zusammenleben und Verantwortung. Er wünscht sich in eine Berliner WG zu ziehen. Hoffnungsvoll ist er, als er zu einer WG-Besichtigung eingeladen wird – allerdings nicht in Berlin, sondern in Potsdam.

„Nice WG auf jeden Fall“

Auf dem Klingelschild am Eingang stehen sehr viele Namen. Als Ian oben bei der Wohnungstür ankommt öffnet ein junger Mann mit Brille und kurzrasierten Haaren die Tür. Er trägt eine schwarze Jeans und ein rotes T-Shirt und stellt sich als Gernot vor. Ian betritt die Wohnung und steht im dunklen Flur der 55-Quadratmeter-Wohnung. Er sieht sich kopfnickend um. Zu seiner Rechten steht ein kleines Holzregal, auf dem unregelmäßig zehn Paar Schuhe verteilt sind. Daneben lehnt ein grünes Bügelbrett an der Wand. Die kleine Garderobennische gegenüber ist vollgestopft mit Kartons, Jacken und Krimskrams. Es riecht nach frisch gekochtem Essen und Laminatboden.

Die WG, die er heute besichtigt, liegt im dritten Stock und hat drei Zimmer, eine Küche, ein Bad. Der erste Eindruck für ihn: top. Die Wohnung liegt in der Nedlitzer Straße im Norden von Potsdam. Ein ruhiges Viertel, zentral gelegen. Eigentlich hat er vorgehabt ein WG-Zimmer in Berlin zu finden, vor allem um näher an seiner Universität zu wohnen. Ian studiert Medien- und Digitaljournalismus an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Berlin Tempelhof. Bis jetzt wohnt der 19-Jährige noch zuhause bei seiner Familie in Werder. In die WG in der Nedlitzer Straße kann er am 01. September dieses Jahres einziehen.

Trotz des etwa gleichbleibenden Anfahrtsweges zur Universität möchte Ian dort einziehen. In Berlin gibt es insgesamt über 200.000 Studierende. Ein WG-Zimmer kostet im Durchschnitt 500 Euro. Letztes Jahr waren es noch 430 Euro. Potsdam kann, was den Zimmerpreis betrifft, attraktiv sein. Hier zahlt man für ein WG-Zimmer ganze 40 Euro weniger. „In Berlin findet man eh nichts“, meint Ian. „Potsdam mag ich lieber von der Atmosphäre her. Berlin ist mir einfach zu groß, man hat immer das Gefühl etwas zu verpassen. Außerdem muss ich eh bald ausziehen, da meine Eltern planen auszuwandern. Also besser früher etwas haben als später verzweifelt suchen zu müssen.“

 

Zusammenleben vs. Zusammenwohnen

Gernot fängt sofort an zu erklären, wo sich was befindet. Auf der linken Seite gehen die drei Räume ab. Zwei davon sind 16 Quadratmeter groß, eines 11 Quadratmeter. Rechts hinten ist die Küche, direkt daneben das Bad. Sein zukünftiges Zimmer kann Ian heute nicht besichtigen, da es abgeschlossen ist. Der Mitbewohner, der auszieht, ist heute nicht da. „Wir schließen alle Zimmer immer ab, wegen Einbruchgefahr“ meint Gernot gleich.

Im Laufe der Besichtigung kommt das Thema Ordnung auf. Ians zukünftiger Mitbewohner nimmt die Pflege der Einrichtung nicht so wichtig. „Das meiste gehört mir nicht, deshalb habe ich nicht so die Motivation mich darum zu kümmern“. Ian meint, dass es in einer gemischten WG bestimmt ordentlicher ist. Gernot entgegnet: „Das hat nichts mit Mädel oder Nicht-Mädel zu tun, die Freundin meines vorherigen Mitbewohners war unter aller Sau, das war richtig schlimm mit ihrer Unordnung.” Ian schaut sich die kleine Küche an. Es gibt zwei Herdplatten und eine Mikrowelle mit Backofennutzung. Keine Spülmaschine. Durch das gekippte Fenster lassen sich Vogelgezwitscher und das entfernte Quietschen der Straßenbahnen hören.

Zwischendurch stellt Ian die Frage: „Wie bist du denn so drauf vom Charakter her, offen oder eher introvertiert?“ Gernot ist gern für sich, stellt er klar. Er ist nicht so oft in Gesellschaft, sondern wohnt aus Bequemlichkeit in einer WG. Als Gernot im Bad erzählt, wie einmal der Spülkasten ausgetauscht werden musste und ihm die Hausverwaltung 150 Euro abverlangen wollte, fällt Ians Blick auf die Mini-Waschmaschine. „Ich habe noch nie so eine kleine Waschmaschine gesehen. Sonst sind die doch immer ein riesiger Kasten“, stellt er fest. Die beiden lachen.

 

Nehmen was kommt

Das Zimmer wird Ian unmöbliert übergeben werden, 359 Euro beträgt die Warmmiete. Damit liegt der Zimmerpreis unter dem aktuellen Durchschnitt von Potsdam. Möbel wird er aus seinem alten Zimmer mitnehmen. Und eventuell noch neue dazukaufen. Zunächst werden seine Eltern die Miete für ihn zahlen. Auch die Anzeige von A1 Immobilien hat er von seiner Mutter zugeschickt bekommen. Die
Potsdamer Firma verwaltet den gesamten Wohnkomplex nahe das BUGA-Parks in der Nedlitzer Straße und vermietet vor allem an Studenten.

Als Ian alles von der Wohnung gesehen hat, stehen die beiden im Flur und quatschen. Es geht um Ians Studium und was er danach vorhat. Gernot ist Ende zwanzig, hat ursprünglich neun Semester Jura studiert und macht momentan eine duale Ausbildung zum Zahntechniker. Die beiden geben sich einen kurzen Handshake zum Abschied. Nach der Besichtigung will Ian sich den Balkon von seinem Zimmer ansehen. Auf der Rückseite des Wohnblocks sind auf manchen Etagen französische Balkone vor den langen Fenstern befestigt. Welcher nun seiner ist, kann er allerdings nicht erkennen. Als Ian in die Bahn zurück nach Werder einsteigt, resümiert er: „Jetzt bin ich müde, aber befriedigt. Abstriche muss man immer machen beim WG-Leben, aber das was ich heute gesehen habe ist Standard und das reicht mir.”