Sensitive Short Stories | Episode 4
Blinder Passagier
Carl hatte gleich gewusst, dass er nicht zügig eine neue Wohnung finden würde. Nachdem er die Filter seiner Wohnungssuche immer nachlässiger eingestellt und seine Anforderungen erfolgreich heruntergeschraubt hatte, hatte er nicht nur die Lust und Motivation verloren, sondern auch den Mut und die Hoffnung. Die Zwischenmieten in möblierten überteuerten Wohnungen hingen ihm zum Hals heraus. Er wollte doch nur ein neues Dach über dem Kopf haben. Niemals hätte er gedacht, dass ihm kurz vor seinem Auszug ausgerechnet eine absurde Idee in den Sinn kam.
In seinem jetzigen Zuhause konnte er sich abends bei einem Bierchen Lasagne, Coq-au-Vin, Tiefkühl-Pizza oder cremige Pasta zubereiten. Er konnte mit Siebträgermaschine in den Tag starten, wie die vielen Hipster aus Prenzlauer Berg, er konnte entspannt auf der Couch dösen und leistungsstarkes W-Lan benutzen. Er konnte an der Spree entlang spazieren und nach dem Sport in eine geräumige warme Dusche springen. Und das alles, ohne einen Cent bezahlen zu müssen.
Eigentlich sollte es nur eine Zwischenlösung sein, eine Überbrückungsmethode, die ihm etwas mehr Geld und Zeit schenken sollte. Aber mit dem Hintergrund, dass seine fünfte Zwischenmiete sehr bald endete, hatte er keine andere Möglichkeit gesehen, als sich Schritt für Schritt heimlich im Office einzurichten.
Aus einem simplen sarkastischen Kommentar heraus geboren – „dann wohn doch einfach hier im Office, wenn du nichts findest, Carl!“ – hatte er die Idee erst verworfen. Bevor er es ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, im Office unterzukommen, vergingen viele schlaflose Nächte.
Wie sollte er das Ganze umsetzen, ohne aufzufallen? Wo doch jeden Tag Kolleginnen ins Büro kamen, manche um 8 Uhr in der Früh erschienen und manche bis 21 Uhr Überstunden machten? Wie sollte er die Spuren seines alltäglichen Lebens verwischen? Wohin mit seiner Habe und persönlichen Gegenständen? Wie sollte er die Putzkräfte umgehen, die morgens um 6:30 Uhr die Alarmanlage ausschalteten und den Wachdienst und den Hausmeister, die nachts regelmäßig Rundgänge machten? Was wäre, wenn der Chef ihn erwischen würde? Würde er von seinen Kolleginnen geächtet werden? Würde er den Job verlieren? Und was, wenn es ihm gar nicht gefallen würde tagtäglich im Office zu wohnen? Zu wenig Abstand von der Arbeit zu haben? Aber in der Not frisst der Teufel fliegen.
Nachdem er unter Berücksichtigung der Putzzeiten, der Alarmanlage und den Arbeitszeiten seiner Kolleginnen einen Plan für eine Testwoche gemacht hatte und dieser Plan wunderbar aufgegangen war, hatte er einfach weitergemacht. Weil Carl als Editor bei der Firma angestellt war, merkten die anderen kaum, dass er nach seinen langen Schichten, die oft bis 23 Uhr oder später andauerten, im Office blieb. Bevor die Kolleginnen in der Früh auftauchten, hatte er bereits das Office verlassen. Manchmal konnte er in der Wohnung eines Freundes die Zeit bis zu seinem Arbeitsbeginn überbrücken. Manchmal ging er zum Sport, ins Café oder Restaurant, zu Arztterminen, reparierte sein Fahrrad, fuhr an den See oder ging einkaufen.
Als er letzte Woche einmal vom Wachdienst erwischt wurde, hatte er kurzerhand seinen Firmenausweis hervorgezogen und irgendwas von „Scheidung“ und „aus der Wohnung rausgeschmissen“ gestammelt. Dieser hatte ihm mitfühlend auf die Schulter geklopft und gesagt, Ick weß, wovon Se reden. Da der Wachdienst wohl selbst gerade eine Trennung durchlief, stellte dieser keine weiteren Investigationen an und ließ ihn gewähren.
Seit fünf Wochen wohnte er nun schon im Office. Bisher war alles reibungslos verlaufen. Bis auf die Sache mit dem Wachdienst natürlich. Aber auch dies hatte er spontan gut gerettet. Mittlerweile hatte er sich mit den Eigenheiten, wie beispielsweise keine Vorhänge im Schlafzimmer zu haben, für jeden Toilettengang quer durch das Office zu rennen, bei jedem Schritt im Treppenhaus aufzuschrecken und der Notwendigkeit, sich immer leise zu verhalten, abgefunden und angefreundet. Die Putzdienste bestach er mit Alkohol und manchmal mit Tickets zu irgendwelchen Shows. Mit dem Wachdienst hatte er ein Übereinkommen gefunden, dass er so lange im Office unterkommen konnte, wie es notwendig war.
Manchmal erhoffte er sich, dass irgendwer von den Kolleginnen es bemerken und sein Geheimnis gelüftet würde. Dass ihm beim gemeinsamen Lunch rausrutschen würde, dass er tatsächlich hier im Office wohnte. Dass entdeckt würde, dass er nach der Arbeit gar nicht heimging, dass er nur den Anschein erweckte, in die S-Bahn zu steigen, um dann mit dem letzten Signalton wieder aus der Tür zu springen und den Weg ins Büro zurückzulaufen. Dass die Kolleginnen bemerken würden, wie oft es in der Toilette nach Zahnpasta roch, dass sie die Feuchtigkeit spürten, die beim Duschen entstand und dass sie sich wunderten, warum die Espressomaschine morgens bereits angeschaltet und der Kaffeebohnenverbrauch immens gestiegen war. Das Office war, ganz ohne, dass er es beabsichtigt hätte, tatsächlich zu seinem Zuhause geworden.
Als er eines Abends mit dem Laptop auf der Couch saß und sich bei einem Vino Last One Laughing anschaute, bekam er das Gefühl, dass das Ganze viel zu perfekt war, um es nur als Zwischenlösung zu betrachten. Wenn er weiterhin im Office unterkommen konnte, sparte er nicht nur extrem viel Geld an, da er keine Miete und Fixkosten bezahlen musste, sondern er sparte auch Zeit. Zeit, die nicht für den Arbeitsweg draufging. Zeit, die er anderweitig investieren konnte. Er musste also von seiner Zwischenlösung irgendwie profitieren.
Und dann begann er, einen wirklichen Plan zu schmieden.