Sensitive Short Stories | Episode 6
Katzentraum
Die Line lag wie ein heller Neonstreifen auf dem dunklen Tisch. Der Kontrast so hoch, dass er in den Augen wehtat. Aber er schaffte nicht, den Blick von dem pulsierenden Strahl abzuwenden, er war hypnotisiert. Die Line schrie zieh mich, zieh mich! Wie gelähmt, seine Lippen taub, die Augenlieder schwer wie Blei, starrte er auf den Neonstreifen, der sich zu verbiegen schien; er wurde länger und schmaler und schlängelte sich auf dem Tisch wie eine flackernde Blindschleiche.
Ja, nimm mich. Nimm noch eine. Die Blindschleiche schwoll an, sie wuchs krachend in die Höhe wie eine Gebirgsformation, nahm den Raum ein, stieß an die Decke, stieß sie auf, ragte empor. Und er sah sich am Fuße der Gebirgsformation stehen, des schneeweißen, glitzernden Berges, klein und unbedeutend; blickte hinauf auf die Spitzen, die klar wie Kristall schienen und die funkelten, er streckte die Finger aus, die Luft zog ihn nach oben, er schwebte zur Spitze, berührte eine davon und mit seiner Berührung rieselte der Kristall plötzlich als Pulverschnee zu Boden; er schaute nach unten zu seinen Füßen, die vom Schnee bedeckt wurden, langsam aber stetig wurden sie eingerahmt von Pulverschnee, ihm war kalt, es gefror in seinen Zehen und die Schneeflocken fielen dicker und dichter herab, sie sammelten sich an einer Stelle und formten sich zu einem kleinen Körper mit vier Beinen und einem Schwanz und Ohren, weiße Schnurrbarthaare strichen an seinen kalten Schienbeinen entlang; eine Schneekatze hatte sich vor seine Füße platziert. Doch der Schnee fiel weiter, er sah seine Beine und die Katze nicht mehr, sie verschwanden im hüfthohen Tiefschnee, er merkte es gab kein Entkommen mehr, der Schnee würde ihn einnehmen, langsam und stetig, sanft und einschläfernd; würde er dort sitzen, im weißen Kleid aus Schneekristallen.
Weit entfernt hörte er es flüstern, oder war es doch ganz nah, an seinem Ohr, in seiner Ohrmuschel, kurz vor dem Trommelfell; er hörte es flüstern zieh mich, zieh mich, zieh mich. Er machte die Augen auf, vor seiner Pupille die Gebirgsformation, groß und weiß und pulvrig, und die weiße Katze, die ihr Fell säuberte; sein Kopf war auf den Tisch gefallen, aber er spürte keinen Schmerz, denn er war weich gelandet, auf Schnee; reinem, leichtem, glitzernden Wolkenschnee. Die Katze blickte ihn an, ihre Augen von blutrotem Orange, lange schmale Pupillen fixierten ihn.
Als er sich aufrichtete, erblickte er an seinen Wänden und auf dem Boden verteilt, unendlich viele Zeichnungen und Kritzeleien von Katzen. Kleine, große, buschige schwarze Fellknäuel in Form von schwarzen Flecken mit Beinen und blutrotorangenen Augen, die sich in einer Landschaft aus Farben verloren. Sie häuften sich auf den Leinwänden, Papierblättern, Notizbüchern, Pappbechern und Taschentüchern.
Schon seit Tagen malte er Katzen. Er wusste gar nicht, ob er überhaupt geschlafen hatte. Durst und Hunger hatten sich verabschiedet, seine Schleimhäute fühlten sich taub an, die Nase brannte. Er war im Delirium. Schnell, berauschend, pulsierend. Alles vibrierte. Seine Finger fühlten den Pinsel, oder war es das Metallröhrchen, er tanzte über die Leinwand, mischte Farben, tauchte in tiefes Schwarz und zauberte mit verwegenen Strichen eine weitere Katze. Ein weiteres Fellknäuel, das sich in einer Landschaft aus bunten Farben verlor. Zieh mich, komm, zieh mich ein letztes Mal, hörte er es flüstern vom Tisch. Und als er den Pinsel in das Wasser tunkte, schnellte seine schwitzige Hand in den Pulverschnee und landete in seinem Mund.