Buchrezension

Was bedeutet es wirklich, “alleine zu leben”?

Daniel Schreiber ist die feinfühlige Schreibfeder unter den Autoren der Neuzeit. Sein Essay „Allein“, der 2021 beim Verlag Hanser Berlin erschienen ist und rund 140 Buchseiten umfasst, ist eine Selbstreflektion im Zeitraffer. Unbeholfene Anfänge im Literaturstudium, eine rasche und intensive Jugend, das Single Dasein eines Homosexuellen unter verheirateten Freunden, depressive Verstimmungen um die Weihnachtszeit, Gärtnern nach Piet Oudolf Style und die große Frage ob das „Leben in Freundschaft“ nur auf eine bestimmte Lebensphase begrenzt ist. Hier schämt sich niemand, obwohl Daniel Schreiber eindeutig tief schambehaftete Themen in seinem Buch diskutiert.

Die Struktur des Buches richtet sich nach Schreibers Lebensetappen, nach Begegnungen mit Fremden und Vorkommnissen, die alle mit dem großen Thema Einsamkeit zu tun haben. Mit einer subtil ehrlichen Art, die Lust auf mehr macht, beschreibt er bruchstückhaft seine Erfahrungen. Innerhalb der ersten Seiten finden sich Überlegungen zu Lyotards These aus der Soziologie gemixt mit szenischen Passagen vom Errichten eines großen Gartens beim Haus von Freunden und vom Reisen zum Vierwaldstätter See in der Schweiz.
Schreiber erzählt mit persönlicher Note von der Freiwilligkeit, mit der wir uns die Märchenerzählungen von Mann-Frau-Kind-Haus als ultimatives Lebensziel aufgezwängt haben. Das Alleinleben und die damit einhergehende Einsamkeit gilt wohl als automatische Konsequenz davon, wenn wir ebendieses Ziel nicht erreichen. Den Code für das Einsamsein kennen eben nur die Einsamen.

„Lange konnte ich nicht allein sein ohne eine vehemente Unruhe zu spüren. […] Heute wird mein Alltag in der Regel von dem Grundgefühl bestimmt, zu wenig Zeit für mich allein zu haben“. Im tagebuchartigen Stil erfahren wir über seine schwerwiegenden und leichten Lebensumstände. Er gibt intime Einblicke in seine schwierigen Phasen und dunklen Gedanken und er endet jedes Mal mit weisen Zugeständnissen. Ihm gelingt eine feine Beschreibung seiner Lebensverhältnisse, seiner soliden Freundschaften und vorherrschenden Verletzungen – frei von egoistischer Bloßstellung. Er erzählt von seinem alleinigen Leben und dem wirren Umhersuchen nach der passenden Partnerschaft, vor allem im mittleren Erwachsenenalter, in dem doch längst viele Freunde Partner und Kind haben. Er spricht über den Effekt der Pandemie auf sein soziales Gefüge und vom Wandern, das er für sich in Famara auf der spanischen Insel Lanzarote entdeckt.

Schreiber wälzt sich durch viele Theorien und Thesen aus der Psychologie, Literatur und Soziologie und verbindet sie mit für ihn bedeutsamen Punkten aus seinem Leben. Es geht um Werke, Bücher und Texte oft homosexueller Autoren, wie Michel Foucault oder Marguerite Duras und Maggie Nelson, die bereits ähnliche Feststellungen über die unerträgliche Einsamkeit in einer heteronormativ geprägten Gesellschaft gemacht haben.

„Allein“ ist ein Buch für diejenigen, die sich selbst bereits analysiert haben und dennoch das Bedürfnis haben, es noch einmal zu tun. Ein Bestseller, der diesmal nicht unbedingt explizit die Masse anspricht, sondern eine fast schon wehmütige Darstellung des Lebens eines homosexuellen Mannes ist, der sich trotz allen guten Gegebenheiten einsam fühlt, abgestoßen, überrannt, vergessen. Eine gewisse Lethargie aber keine Midlife-Crisis. Ein Buch, das man in einem Zug liest und später nachdenklich aus der Hand legt. Dieser gesellschaftspolitische Essay von Daniel Schreiber ist ein jäher Aufruf zur Selbstakzeptanz, er ist ein differenzierter Blick in die verworrene Welt der queeren Menschen, die doch zu allem und zeitgleich zu nichts passen zu scheinen. Ein quälender Moment des Perspektivwechsels, der allen guttun würde.