Sensitive Short Stories | Episode 5

Geschlossene Gesellschaft

Liru saß im Dunkeln am Fensterbrett und starrte auf die beleuchtete Straße hinunter. Auf der Party, die im Gange war, kannte sie keinen bis auf ihre Mitbewohner. Die beiden hatten unbedingt eine Einweihungsfeier veranstalten wollen. Ihr Cocktailglas war gefüllt mit einem schlecht gemischten Mojito. Warum überhaupt betrank sie sich? Sie war längst nicht mehr in dem Alter, in dem man sich selbst noch etwas beweisen musste oder sich vormachte, dass man nur dann dazugehöre, wenn man auf WG-Partys wie alle anderen stark alkoholisiert durch den Flur stolpere und mit einem verlegenen Grinsen mit einer zweiten Person aus dem Bad auftauche. Warum Alkohol? Sie hätte genauso gut bei Cola bleiben können. Oder alkoholfreiem Bier. Aber WG-Partys, auf denen man sich nicht zugehörig fühlte, waren schwer auszuhalten, wenn man nüchtern blieb.

Sie nuckelte an dem Glasstrohhalm in ihrem halbwarmen Mojito, weil sie keine andere Beschäftigung fand. Die Menschen, die im Wohnzimmer lautstark Rage Cage spielten, gehörten größtenteils zu Max Clique.

Max war vor drei Monaten in die WG gezogen, nachdem er sich von seiner Freundin getrennt hatte und dann eine neue Bleibe suchte. Er studierte an der Humboldt-Universität Kulturwissenschaften und würde im nächsten Semester seine Masterarbeit anfangen. Er war beliebt, arbeitete ab und an als DJ bei Firmenevents, interessierte sich für Kunst und Mid-Century-Design und tanzte fast jedes Wochenende in diversen Clubs oder ging mit Freunden Spikeballspielen im Park. Seine kleine Hanfplantage nahm ein Drittel seines sonnigen WG-Zimmers ein.

Vorhin saßen sie alle zusammen in einer Runde und hatten sich unterhalten. Über das Studium, die Stadt, Dating Life, Memes, lustige Zufälle, wer wen von woher kennt, über die Projekte aus den Seminaren, über Politik und das Essen. Liru hatte sich eigentlich fest vorgenommen, etwas zur Konversation beizutragen, eine lustige Anekdote zu erzählen, bei der alle ihr die Aufmerksamkeit widmen würden. Eine Geschichte, die sie, wenn gut erzählt, sympathisch machen würde, die sie als menschlich und nahbar zeigen würde. Aber ihr fiel nichts ein, was sie wirklich hätte sagen können.

Sie war nur auf der Party, weil sie hier wohnte. Natürlich konnte sie sich in ihr Zimmer zurückziehen, doch die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwer von den Partygästen betrunken hereinstolperte, war ziemlich groß. Und den Bass hörte man durch die dünnen Altbauwände sowieso. Also beschloss sie, eine gute Mitbewohnerin zu sein und die Party irgendwie zu genießen. Aber es fiel ihr schwer.

Seit sie für das Studium nach Berlin gezogen war, hatte sich kein Freundeskreis ergeben, keine Clique zusammengefunden; weder über Unikurse noch über sportliche oder künstlerische Hobbies, weder über andere WG-Partys, Bekannte oder Dates noch über die vielen WGs, in denen sie gewohnt hatte. Innerhalb der letzten vier Jahre war sie sechsmal umgezogen.

Alle hier schienen sich wohl miteinander zu fühlen, waren sich mehr oder weniger bereits bekannt, kannten Insider, neckten sich, lachten übereinander und die alten Zeiten und zeigten ungehemmt Körperkontakt.

Liru fühlte sich nicht wirklich dazugehörig, irgendwie leer und abgespalten von der Gruppe. Niemand fragte sie irgendetwas oder band sie ein in die Gespräche. Sie schien gar nicht aufzufallen, weder positiv noch negativ. Sie war einfach nur physisch anwesend und beobachtete die anderen, wie sie eine tolle Zeit verbrachten. Sie fühlte sich so unwohl und unerwünscht, dass sie am liebsten den Raum verlassen wollte. Mich würde hier niemand vermissen, dachte sie sich.

Sie rührte ein wenig in ihrem warmen Mojito herum und ging dann in die Küche.  Das Gefühl, dass sie gänzlich fehl am Platz war, nicht nur hier bei der WG-Party, sondern generell in der Welt, überkam sie mit einem heftigen Weinanfall. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem hässlichen Grinsen. Sie leerte ihr Glas aus und füllte sich Wasser nach. Aber als sie versuchte zu trinken, verspannte sich ihr Gesicht und sie schüttelte erneut ein Weinkrampf. Das Glas schwappte über und lief ihr über den Hals und den Ausschnitt. Sie konnte nicht mal Luft holen, so verkrampft war sie.

„Na, genug vom Alkohol?“, vernahm sie eine Stimme hinter ihr.

Wie vom Schlag getroffen atmete sie scharf ein, ließ ihre Gesichtszüge fallen und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie geweint hatte. Sie hielt sich das leere Glas vor das Gesicht und gab vor, zu trinken. Aber der Rotz und die Tränen auf ihrer Haut waren sichtbar. Zudem bekam sie immer rote Flecken auf ihrer hellen Haut, wenn sie heulte. Wieso musste auch grad jetzt jemand reinkommen? Fucking hell.

Sie drehte sich um und vor ihr stand Max. Zwei Girls stapften hinter ihm in die Küche. Laut kreischend und lachend hielten sie sich an ihm fest, versuchten sich Shotgläser mit Tequila zu füllen. Er schaute Liru an und lachte verlegen. Alle drei waren so betrunken, dass es ihnen gar nicht auffiel, dass sie geheult und sich Wasser über die Klamotten geschüttet hatte. Sie bezweifelte, dass sie sich diesen Abend überhaupt noch besser fühlen würde, auch nicht, wenn sie noch mehr Alkohol konsumierte.

Die Girls schnappten sich die Shots und zogen Max aus der Küche. Im Hintergrund waren immer noch die Musik und das Geschreie vom Rage Cage im Wohnzimmer zu hören. Liru stellte sich mit dem Rücken zum Kücheneingang und begann sich mit einem Papiertuch das Gesicht abzuwischen und die Nase zu putzen. Sie befüllte das verschüttete Glas Wasser neu, bracht es aber nicht fertig, auszutrinken.

Dann spürte sie eine warme Hand auf ihrem Rücken. Sie erschrak und wirbelte herum. Und blickte in Max besorgtes Gesicht.